Perspektiven der Klangklassifizierung
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Seit der Antike versuchen sich Musiktheoretiker an der Klassifizierung von Intervallen. Der ursprüngliche Ansatz gründet in der relativen Einfachheit von Schwingungsverhältnissen. Intervalle, deren Verhältnis aus der Tetraktys abgeleitet, also mit den Zahlen 1 bis 4 dargestellt werden konnten, wurden als perfekt klassifiziert und hierdurch abgegrenzt. Dies betrifft im Oktavrahmen die Oktave selbst (Schwingungsverhältnis 2:1), die Quinte (3:2) und die Quarte (4:3). Dieses Modell wurde von den Theoretikern des Mittelalters adaptiert. Die Tetraktys-Intervalle wurden als perfekte Konsonanzen bezeichnet, die ungeachtet der komplexeren Schwingungsverhältnisse gut zusammenklingenden Intervalle große und kleine Terz, große und kleine Sexte als imperfekte Konsonanzen. Den Konsonanzen opponiert wurden die verbleibenden, als dissonant bezeichneten Intervalle: kleine und große Sekunde, kleine und große Septime sowie der Tritonus. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich die Unterscheidung von perfekten und imperfekten Konsonanzen abgeschliffen. Die Entgegensetzung von Konsonanz und Dissonanz entwickelte sich hingegen zu einem zentralen Darstellungsmittel der Dur-Moll-Tonalität mit ihrer auf dem Dreiklangsmodell basierenden Harmonik. Im Gefolge dieser Entwicklung wurde der Begriff Konsonanz auch auf den Dur- und den Molldreiklang angewendet.
Aus der Perspektive der Dur-Moll-Tonalität ist Dissonanz eine zur Auflösung in die Konsonanz strebende Akkordspannung. Damit entfernt sich die Terminologie weiter von ihren Ursprüngen als es zunächst den Anschein haben mag. Das Kriterium der Auflösungsbedürftigkeit ist nämlich kein rein akustisches, sondern vor allem auch ein semantisches. Es beurteilt den Klang in Abhängigkeit vom Kontext. Infolgedessen wird der Dreiklang e-g-c in der Funktion erste Umkehrung des C-Dur-Dreiklangs als konsonant klassifiziert, in der Lesart neapolitanisches e-Moll hingegen als dissonant. Der Dreiklang g-c-e ist in der Funktion zweite Umkehrung des C-Dur-Dreiklangs eine Konsonanz, als dominantischer Quartsextakkord aufgrund der hinzugedachten doppelten Vorhaltbildung eine ausgeprägte Dissonanz.
Solange sich die Musik im Rahmen der klassisch-romantischen Verfahren bewegt ermöglicht der immanente Kategorienfehler sogar heuristischen Gewinn, denn Komponisten spielen gerne mit der Ambivalenz funktional doppelwertiger Klänge. Eine neue Situation ergibt sich, als das Konzept der Auflösungsbedürftigkeit der semantischen Kategorie Dissonanz zur Disposition gestellt wird. Arnold Schönberg beschreibt diesen Prozess als Emanzipation der Dissonanz, formuliert dabei jedoch aus der Perspektive des klassischen Konzepts: Dissonanz an sich ist nicht emanzipierbar.
Im 19. Jahrhundert gewinnen Gegenentwürfe zur Ästhetik der tonalen Befestigung an Bedeutung. Die Bandbreite erstreckt sich von der Verschleierung der tonalen Intention über die tonale Infragestellung bis hin zur zeitweiligen oder gar vollständigen Suspendierung der tonalen Orientierung. Um dieser Entwicklung Rechnung tragen zu können bedarf es eines Verfahrens zur Aufschlüsselung der jeweiligen tonalen Disposition. Statt ein Bewusstsein für die hieraus erwachsene Herausforderung zu entwickeln, hat sich die Musiktheorie auf einen deskriptiven Zugang beschränkt, unterscheidet vage zwischen Tonalität, Atonalität und einem wie auch immer gearteten Bereich des Übergangs. Das ist ebensowenig zielführend wie die zuweilen anzutreffende Gleichsetzung von Atonalität und Dissonanz: Das Kriterium der Konsonanz oder Dissonanz ist für die Bestimmung einer tonalen Lenkungswirkung irrelevant. Ci-Analyse setzt an diesem Punkt an. Sie identifiziert Komplementärintervalle (ci) als Gestalter des tonalen Möglichkeitsraums: Den ci kleine Sekunde/große Septime, kleine Terz/große Sexte, Quarte/Quinte eignet tonale Lenkungswirkung, den anderen Intervallen nicht. Ausgehend vom Intervall als klanglichem Grundbaustein ergibt sich das tonale Potential eines komplexeren Klang aus den in ihm enthaltenen intervallischen Beziehungen. Infolge der Zuordnung der Tonarten zu K-Strukturen und deren ci lassen sich tonale Pfade ermitteln und komplexe tonal-harmonische Konstellationen aufschlüsseln. Mit der ci-Analyse lässt sich nicht nur die tonale Situation in den Werken der Klassik wesentlich genauer bestimmen, sie erschließt auch die tonalen Konzepte der Romantik und die auf komplementären Reihen basierende tonale Strategie Arnold Schönbergs.