CI-Analyse

Licht in den Möglichkeitsraum tragen

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Plädoyer für eine präzise Tonalitätsanalyse

Die Funktionsanalyse ist ein ausgezeichnetes Instrument zur Erschließung des harmonischen Kosmos der Klassik. Dieser basiert auf dem Modell eines tonalen Zentrums, von dem aus die Welt vermessen und erkundet wird. Höhe und Tiefe, Nähe und Entfernung, Freude und Trauer, Erfüllung und enttäuschte Erwartung, Brüche und unverhoffte neue Bindungen lassen sich in zweckdienlichen harmonischen Entwicklungen lebendig vergegenwärtigen. Der um die Tonika kreisende harmonische Kosmos ist Abbild einer Gesellschaftsordnung, welche im ausgehenden 18. Jahrhundert erheblichen Belastungen ausgesetzt ist. Mozarts Oper Le nozze di Figaro (1786) thematisiert die gesellschaftlichen Fliehkräfte, möchte jedoch den Glauben an die Bindungskraft der finalen Aussöhnung nicht missen. Wenig  später, in Mozarts  Don Giovanni (1787) ist dieser Glaube abhanden gekommen. Zwei Jahre nach dessen Uraufführung beginnt die Französische Revolution.

Im 19. Jahrhundert finden sich Normen und Strukturen des 18. in zunehmender Konkurrenz zu den Perspektiven individueller Setzungen und Handlungen. Dieser Prozess prägt auch die Weiterentwicklung der Harmoniesprache. Die Ergebnisse der Funktionsanalyse bilden den individuellen Anteil als Irritation oder Normverletzung ab. Damit ist das Besondere kenntlich gemacht, aber nicht inhaltlich erfasst. Hierfür ist ein ergänzender analytischer Zugang notwendig. Dieser wird durch den antagonistischen Ansatz der ci-Analyse ermöglicht.

Bei Kompositionen des 19. Jahrhunderts lassen sich aus der Zusammenschau der zwei analytischen Herangehensweisen charakteristische, inhaltlich-ästhetisch motivierte Strategien offenlegen. Der vielleicht bedeutsamste besteht in der Maskierung eines fortbestehenden tonalen Ziels. Dieses wird nicht explizit angesteuert, doch indem die ci seiner K-Struktur ausgespart werden, läuft die harmonische Progression darauf zu. Der Beginn von Frédéric Chopins Walzer cis-Moll op. 64\2 wendet sich biegsam in manche Richtung, deutet niemals weiterverfolgte Ziele an, schmachtet chromatisch. Zugleich verläuft der tonale Pfad beharrlich in der Struktur der Grundtonart und ihrer Parallele. Claude Debussy verfeinert das Verfahren, indem er beispielsweise in seinem Prélude La fille aux cheveux de lin  zwei tonale Pfade offen lässt, einen davon sodann beim Durchqueren eines als tonal ungerichtet wahrgenommenen pentatonischen Feldes schließt. Angekommen im sanft strahlenden Dur-Ziel weiß man nicht um den Weg, welchen man gegangen ist. Arnold Schönberg schließlich sichert die Unversehrtheit des tonalen Pfades systematisch ab: Solange die Hexachorde seiner komplementären Reihen im Satz getrennt bleiben, können selbst in verdichteten Sechsklängen keine ci der basierenden K-Struktur generiert werden.

Der Beginn des Vorspiels von Richard Wagners Oper Tristan und Isolde bündelt Techniken der tonalen Maskierung: Neben der Rückung des Eingangsmotivs  kommt die Tritonustransposition von Funktionsvertretern zum Einsatz. Hinzu kommt die Absenz von ci im Inneren der kurzen Klangeinheiten: Die mit dezentem Verweisungcharakter imprägnierten Rahmenklänge umschließen jeweils ein tonal ungerichtetes Inneres wie eine transparente Membran. Auch durch dieses fragile Ereignis führt kaum geahnt ein tonaler Pfad. 

Mit dem Fehlen eines tonalen Pfades wird ein Gebiet betreten, welches sich mit einer gewissen Berechtigung als atonal bezeichnen lässt. Das Zusperren aller K-Strukturen infolge zweckdienlicher ci-Konzentration ist freilich dieser Kategorie ebenso zuzurechnen wie ein Satzbild, dessen ci-Mangel keine Verengung des Möglichkeitsraumes auf eine K-Struktur ermöglicht. Beide Konstellationen sind hinsichtlich ihrer Wirkung und ihrer Optionen einander entgegengesetzt. Eine Klassifizierung (als atonal) ergibt auch hier nur einen Sinn bei gleichzeitiger Betrachtung des konkreten Möglichkeitsraumes. Zu fragen ist jeweils auch, welcher Stellenwert tonal ungerichtete Klänge oder Klangfolgen in der Gesamtanlage zukommt. Im Tristan-Vorspiel evozieren sie Momente der Enthobenheit in einem tonalen Kontext. In Schönbergs Klavierkonzert op. 42 bilden knappe tonale Abschnitte einen auch inhaltlich motivierten Kontrast zu einer weithin atonalen Faktur. Ein solches Werk einseitig als tonal oder atonal zu bezeichnen verhindert mögliche Erkenntnis. Diese ergibt sich erst durch ein Ausmessen des Ereignisraums zwischen den Polen.